Mit Vehemenz wehren wir uns mit zahlreichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gegen die Infragestellung der Literaturberichterstattung und Literaturkritik im WDR. Den Offenen Brief von Arco-Verleger Christoph Haacker an den WDR-Intendanten Tom Buhrow,  Programmdirektorin Valerie Weber und WDR-3-Programmchef Matthias Kremin, sowie den Link zur Online-Petition freier Rezensentinnen und Rezensenten finden Sie hier.

Offener Brief an die Intendanz und Hörfunkdirektion des WDR

Zur Infragestellung der Literaturberichterstattung und Literaturkritik im Sender

»Am Anfang war das Wort, und nicht die Zahl.« Kurt Wolff

Sehr geehrter Tom Buhrow, sehr geehrte Valerie Weber, sehr geehrter Matthias Kremin,

der WDR ist für mich seit meiner Kindheit ein Lebensbegleiter. Mit dem »Mosaik«, mit »Meinungen über Bücher« – die Stimme von Heinrich Vormweg unvergessen – und anderen Formaten bin ich in Wuppertal aufgewachsen. Wer weiß, welchen Einfluss dieses Hören darauf hatte, was heute mein Beruf als Verleger und Journalist ist – solange das noch geht. Erlauben Sie mir die Frage, wie das großartige und sehr vermisste »Kritische Tagebuch« das Bild kommentiert hätte, das die von Ihnen verantworteten Programmentscheidungen des WDR und deren Kommunikation gerade abgeben. Sie haben die berechtigten Sorgen, die es gibt, keineswegs zerstreuen können.

Ich bin entsetzt darüber, dass der WDR ausgerechnet das streichen möchte, was seine Stärke mit ausmacht und ihn zunehmend von anderen Medien positiv unterscheidet. Damit setzt er beunruhigend einen Trend fort, der in den Streichungen von Sendeplätzen beim NDR, HR, BR und SWR schlechte Vorbilder hat. Damit machen Sie den Abbau weiterer Literatursendungen weiter salonfähig.

Als freier Journalist und Rezensent bin ich unmittelbar, als Verleger aus NRW mittelbar von dieser unsäglichen Entwicklung betroffen. Der Wegfall von Buchkritiken im WDR wäre Ihr trauriger Beitrag dazu, die kulturellen Landschaften Deutschlands weiter veröden zu lassen – in einer Zeit, in der Bücher Halt geben können und das Denken kritische Impulse braucht. In einer Zeit, in der uns, von persönlichen Begegnungen abgeschnitten, das Radio und Bücher das Tor zur Welt sind. In einer Zeit, in der die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien die Zeichen erkannt hat und alles tut, um die Buchbranche zu stärken. Das aber entlässt Sie keinesfalls aus der Verantwortung.

Es braucht mehr denn je diese Literatur-Formate im WDR 3. Wie sehr der Wegfall von Plattformen für Literatur ein Verlust ist, können Sie im Ausland ablesen. Dort, wo autokratische Regime die Freiheit des Worts unterdrücken. Dort, wo es, wie in Russland, eine verschwindend dürftige Buchhandels- und Verlagslandschaft gibt. Dort, wo es keine Kritik und keine Literaturkritik gibt. Wie kann es sein, dass ausgerechnet von Journalisten wie Ihnen ein Weg unterstützt wird, an dessen Ende eine ähnliche Verödung stehen könnte?

Buchkritik ist wichtig, ja notwendig. Ich muss daran denken, was es für unsere Autorinnen und Autoren bedeutet, ein Echo im Rundfunk auf ihr Werk zu erleben. Ich habe erlebt, wie es unsere jüdischen Autorinnen und Autoren, die Auschwitz überlebt haben, wie den 90jährigen Tschechen Tomáš Radil, die 100jährige Niederländerin Marga Minco, gefreut und bewegt hat, zu hören, wie jetzt Ihre Lebensgeschichten vom Radio zu Hörern und Hörerinnen, zu Lesern und Leserinnen getragen wurden.

Gelingt einem Verlag oder einem Autor etwas nicht gut, so brauchen wir auch dazu kritische Rückmeldungen, einen Resonanzkörper. Wird etwas geschätzt, so kann Buchkritik im Radio wesentlich dazu beitragen, dass Bücher nicht nur Hörerinnen und Hörer, sondern auch Leser und Leserinnen finden. Eine einzige Radiobesprechung kann unter Umständen mehrere Hundert verkaufter Bücher (und weitere Rezensionen) nach sich ziehen. Tag für Tag. Verteilt auf viele unterschiedliche Verlage, große wie kleine. Das ist ein wichtiger Beitrag zum Erhalt der kulturellen Vielfalt nicht nur unseres Bundeslandes NRW. Im gesamten deutschsprachigen Raum kommt das der Buchbranche zugute. Es stärkt insbesondere solche mittleren und kleinen Verlage, die nicht über die Mittel verfügen, über kostspielige Werbung Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Werden Bücher verkauft, ist das ein Beitrag zur Sicherung einer ganzen krisengeschüttelten Branche, die alles versucht, sich tapfer zu behaupten: von Verlagen, Buchhandlungen, Zwischenhandel sowie allen, die am Zustandekommen eines Buchs beteiligt sind. Also von Autoren, Übersetzern, Gestaltern, Setzern, Verlagsvertretern, Illustratoren. Lektoren, Druckern usw. Das macht die Tragweite Ihrer Entscheidungen und deren wirtschaftliche Folgen deutlich. Es wird eine fatale Kettenreaktion in Gang gesetzt. Wie Dominosteine drohen Strukturen zusammenzufallen – dramatisch zugespitzt durch den »Lockdown« und seine Folgen.

Dazu aber gefährdet Ihre Programmpolitik die berufliche Existenz insbesondere von Journalistinnen und Journalisten, die als feste Freie mit ihren Kritiken wesentlich zum Niveau Ihrer Formate beigetragen haben und sich ohnedies mitten in prekären Lebensumständen befinden, die durch die Pandemie noch dramatisch verschärft sind. Wir produzieren Beiträge derzeit bereits mit hohem Aufwand im »Home-Studio«, um die Buchkritik am Laufen zu halten.

Zusätzlich ist das Kulturgut »Buch« gefährdet, auf das unser Land lange stolz war. Wo ist diese Wertschätzung geblieben? Ist es nicht alarmierend genug, wie die Kompetenz der deutschen Sprache abnimmt – nicht zuletzt, weil zu wenig gelesen und manchmal zu schlecht geschrieben wird? Und tragen die Sprache von uns Journalistinnen und unsere Urteilskraft nicht auch dazu bei, hier Maßstäbe zu setzen?

Als öffentlich-rechtlicher Sender haben Sie einen Bildungs- und kulturellen Auftrag. Dafür bekommen Sie Mittel aus unseren Steuergeldern bzw. Rundfunkabgaben, die vielen Haushalten eine erhebliche Last sind. Die Akzeptanz, sie zu entrichten, sinkt, wenn Sender uns mit ihrem Angebot nicht länger überzeugen und mit ihren Entscheidungen vor den Kopf stoßen.

Als Kurt-Wolff-Preisträger 2020 sieht sich der Arco Verlag einer Tradition verpflichtet, in der unsere Vorbilder für unsere kulturellen Werte eingetreten sind, sie nach Kräften verteidigt und bewahrt haben, als das Kulturgut Buch und seine Schöpferinnen und Schöpfer in ihrer Existenz bedroht waren.

Wir werden nicht schweigend dabei zusehen, was kalten Herzens zu zerschlagen Sie im Begriff stehen. Was Sie anrichten, wird noch Folgen haben, wenn Sie längst in Ruhestand sind. Ruhe aber wird es jetzt nicht geben.

Wir werden nicht widerspruchslos hinnehmen, wie ein starkes Stück in Jahrzehnten gewachsener, deutscher Radiokultur von Ihnen abgewickelt wird. Nichts rechtfertigt Ihre Pläne, sie sind unverantwortlich. Wäre Ihr Rundfunkangebot das eines freien Unternehmens, beispielsweise einer Tageszeitung, würde ich aus Konsequenz mein Abonnement sofort kündigen. Wären Sie Politiker, würde ich für Ihre Abwahl eintreten. Und mit mir viele.

Sie aber haben alle Möglichkeiten, die Stimmen des breiten Protests nicht zu missachten und Ihre Entscheidung zurückzunehmen. Sie haben die Freiheit, zu einer Neubewertung zu kommen und einen Fehler zu korrigieren.

Das ist die Erwartung von uns Verlagen in NRW, in Deutschland, in Österreich und der Schweiz und einer breiten Öffentlichkeit an Sie, in aller Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen, um deren Existenz es geht.

Wir unterstützen die Online-Petition von Insa Wilke und ihren Mitstreitern und Mitstreiterinnen voll und ganz und rufen mit dazu auf, dass Ihren traurigen Vorhaben von Ihrem mündigen WDR-Publikum und der Öffentlichkeit die Rote Karte gezeigt wird.

Mit besten Grüßen,

Christoph Haacker,
Verleger und Journalist
Arco Verlag
http://www.arco-verlag.com
https://www.facebook.com/arco.verlag

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