Holunderblüten
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Dieter Sudhoff (Hg.)
Holunderblüten
Erzählungen deutscher Schriftstellerinnen aus Böhmen und Mähren
Bibliothek der Böhmischen Länder [8]
290 S. / 13 x 21 cm / 1. Aufl.
gebunden
Oktober 2005
vergriffen
ISBN 978-3-938375-04-4
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Sie wurden berühmt durch ihre Aufsässigkeit – wie Bertha von Suttner. Sie wurden zu »Dichterfürstinnen« – wie Marie von Ebner-Eschenbach. Sie standen im Mittelpunkt von feinen literarischen Salons – wie Auguste Hauschner und Ossip Schubin in Berlin, Hedda Sauer in Prag. Sie gaben sich als Männer aus – wie Aloisia Kirchner, die sich Ossip Schubin nannte. Sie begehrten gegen die Frauenrolle auf, die ihnen zugewiesen wurde – wie Grete Meisel-Hess. Sie wurden belächelt von ihren männlichen Kollegen. Sie standen im Schatten ihrer bekannteren Männer – wie Gertrud Urzidil. Sie kehrten Prag oder der mährischen Provinz den Rücken, weil sie die Welt sehen wollten oder ihrer Umgebung entgehen. Sie flohen vor den Deutschen aus ihrer Heimat, um ihr Leben zu retten – wie Grete Fischer und Elisabeth Janstein, Anna Maria Jokl, Anna Krommer und Lenka Reiner. Oder sie wurden umgebracht – wie die Jüdinnen Ilse Weber und Alma Johanna Koenig. Sie alle sind – deutsche Schriftstellerinnen aus Böhmen und Mähren.

Die Literaturwissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten vielen Autorinnen die Plätze in den Literaturgeschichten erobert, die ihrem Rang entsprechen. Schriftstellerinnen wie Gertrud Kolmar, Irmgard Keun, Mascha Kaléko, Henriette Hardenberg, Rosa Ausländer, Hermynia zur Mühlen, Hilde Spiel, Gina Kaus, Karoline von Günderode und Fanny Lewald sind inzwischen wiederentdeckt oder sogar berühmt, und ihre Werke werden wieder gelesen. Und doch existieren noch weiße Flecken auf einer imaginären Landkarte, die Orte des weiblichen Schreibens verzeichnet. Eine solche Region ist Böhmen und Mähren.

Dort waren die schreibenden Frauen lange allenfalls die Frauen an der Seite ihrer Männer wie im bekanntesten Fall die Journalistin Milena Jesenská, Kafkas Freundin und Briefpartnerin. Und was die Entdecker der deutschsprachigen Literatur jener Landstriche zutage brachten, war Literatur von Männern. Der Journalist Jürgen Serke stellte in seinem Buch »Böhmische Dörfer« 46 Autoren und eine einzige Schriftstellerin – Elisabeth Janstein – vor. Und selbst in die ausgezeichnete Anthologie »Prager deutsche Erzählungen« fanden nur zwei Texte von Frauen Aufnahme.

Für den damaligen Herausgeber Dieter Sudhoff war das der Beginn einer neuerlichen Spurensuche – und er wurde doch fündig: Stolzes Ergebnis seiner jahrelangen Bemühungen ist die vorliegende Anthologie Holunderblüten mit 25 Erzählungen von 20 Schriftstellerinnen aus Böhmen, Mähren und Mährisch Schlesien. Als eine Art "Schwesterband" zu vorangegangenen einseitigen Anthologien oder für sich allein zu lesen, zeigt die Sammlung Holunderblüten, daß viele Autorinnen aus Prag und anderswo zu Unrecht vergessen sind. Die Auswahl umfaßt einige frühe Erzählungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, legt einen Schwerpunkt auf die Vertreterinnen der literarischen Moderne im 20. Jahrhundert und schließt mit dem Ende der deutschen Literatur von Frauen in Böhmen und Mähren nach 1939/1945. Sie bietet so einen Überblick über mehrere Epochen böhmisch-mährischer Literatur, vom epischen Realismus über den Impressionismus des Fin de siècle bis zur Neuen Sachlichkeit und zur Exilliteratur. Immer schrieben die Autorinnen auf der Höhe ihrer Zeit, es sind moderne Frauen, die sich überhaupt ihr Schreiben erstritten. Das gilt für die erste Erzählung – von Marie von Ebner- Eschenbach – ebenso wie für die heute noch schreibenden Schriftstellerinnen Lenka Reiner(ová) und Anna Krommer.

Holunderblüten ist ein Lesebuch für Leserinnen, die Neuentdeckungen machen wollen, und für Leser, die neugierig auf Literatur von Frauen sind. Es geht um Liebe und um Sehnsüchte, um Schönheit und Träume, es geht um Auflehnung und Verzweiflung, um Glück und um Einsamkeit, um Gefahren und Verbrechen, um Alltag und Exotik, Leben und Tod – um Frauen und Männer.

Die thematische und stilistische Vielfalt der Texte macht den Band darüber hinaus zu einer idealen Lektüre in Übungen und Seminaren. Das gründliche Nachwort und ein umfassender Anhang, der die Verfasserinnen in Wort und Bild vorstellt sowie weitere Autorinnen nennt, ermuntern zu weitergehender Beschäftigung – eine Einladung, die Literaturgeschichte und unsere Frauenbilder um ein neues Kapitel zu erweitern: Deutsche Schriftstellerinnen aus Böhmen und Mähren.