Es gibt nur wenige Figuren der europäischen Kulturgeschichte, die so umfassend avantgardistisch und darin so wandlungsfähig waren wie der georgische Ausnahmekünstler Iliazd: Sprach- und Klangkünstler, Romancier, Dichter, Verfasser experimentieller Lesedramen, Textildesigner, Typograph, Verleger und Buchgestalter, Kunsttheoretiker und -vermittler. Weltweit verehrt, besonders aber in seiner Wahlheimat Frankreich, rückt er als einer der bedeutenden Autoren des 20. Jahrhunderts hierzulande erst langsam in den Blickpunkt, dank seiner atemberaubenden Romane der 30er Jahre wie »Philosophia« oder »Verzückung«, die fast alles, was seinerzeit geschrieben wurde, spielend in den Schatten stellen.
Felix Philipp Ingold macht eine noch fast gänzlich unvertraute Seite des Schriftstellers erstmals auf Deutsch erfahrbar. Seine Lyrik, die bislang als nahezu unübersetzbar galt, wird von ihm in einer repräsentativen Auswahl vorgelegt, welche Iliazds wundersame Wege nachvollzieht: Begonnen hatte er als Vorreiter der radikalen Moskauer Avantgarde, die in Manifesten großmäulig den Bruch mit allen Traditionen verkündete – und doch allen neuen Wegen aufgeschlossen gegenüberstand. Nach der Oktoberrevolution mischte er mit Weggefährten seine Geburtsstadt Tiflis künstlerisch auf, die vorübergehend eins der Zentren der Moderne war, auf Augenhöhe mit den westlichen Metropolen.
Noch vor der Annexion Georgiens war er über Konstantinopel in diesen Westen aufgebrochen und fügte sich ab 1921 in die internationale Pariser Boheme ein, gleichermaßen des Russischen wie des Französischen mächtig.
Hier erfindet sich Iliazd als Lyriker neu: seine ab 1940 veröffentlichten Versdichtungen wie »Afet«– 66 Sonette – stehen in schroffem Gegensatz zu allem bisher Postulierten wie der »Befreiung der Wörter« von ihren hergebrachten Bedeutungen. Nun herrscht anstattdessen strenge Metrik vor, das als überkommen verschriene Sonett wird in Perfektion wiederbelebt, der Endreim tritt an die Stelle der einst propagierten Assonanz. Geradezu verwegen tritt Iliazd in Widerspruch zu seiner futuristischen Vergangenheit und füllt die strenge Form jedoch zugleich mit anarchischer Mißachtung der Grammatik, setzt unauflösbare Widersprüche. Analog zur Bedrohung der Welt – die Deutschen besetzen Frankreich – ist die innere, seelische Welt dieser Verse im Übergang zum Chaos; der düsteren Gestimmtheit des Zyklus »Rahel« (1941) sowie von »Der Brigadist« kann man sich bis heute nur schwer entziehen, sie gehen in einer abermals krisenhaften Zeit unter die Haut.
Es sind diese fast unbekannten Facetten des Werks von Iliazd, die in Felix Philipp Ingolds Auswahl den Schwerpunkt bilden. Doch stellt er diesem Exilwerk eindrucksvolle Beispiele für Dichtung anderer Schaffensphasen zur Seite.