Wir trauern bestürzt um János Terey, unseren Autor und den Menschen – in Gedanken und in Verbundenheit bei denen, die seinen Verlust noch ganz anders fühlen, bei seiner Frau, den beiden kleinen Söhnen, seiner ganzen Familie, Freunden und Freundinnen; im Bewußtsein, daß die ungarische Gegenwartsliteratur einen ihrer eigenwilligsten und kühnsten Vertreter verloren hat.

Unsere gemeinsame Geschichte begann mit dem Kennenlernen des Autors und seines Werks, dank seines Übersetzers und beharrlichen Budapester Vermittlers Wilhelm Droste – für den Arco Verlag unter anderem Nachdichter von Endre Ady. Schon bei der ersten Begegnung auf der Frankfurter Buchmesse gab es eine gegenseitige Ahnung, von dem, was uns verbindet: Wir wollten ihn zum Autor, und der Dichter János Térey sah seinerseits seinen Platz im Verlag von Ady, James Joyce, Ludvík Kundera, Vladislav Chodasevič, Daniil Charms und anderen.

Nach und nach erschloß sich uns der Kosmos von János Térey, aber dieser Prozeß ist – nicht zuletzt wegen unserer mangelnden ungarischen Sprachmächtigkeit und der Abhängigkeit von Vermittlern, aber auch wegen seiner ungeheuren Vielfalt als Dichter, Essayist, Dramatiker und Erzähler – noch längst nicht an seinem Ende.

Andere sind so berufener, über seinen künstlerischen Rang zu sprechen, und maßgebliche ungarische Schriftsteller wie László Márton haben schon zu Lebzeiten ihren Kollegen als herausragenden Autor gewürdigt. Eine Ahnung seiner thematischen und formalen Kühnheit mögen Bücher wie Paulus geben, wo er unter anderem die Geschichte des Apostels mit der des Generalobersts Friedrich Paulus – des tragisch gehorsamen Oberbefehlshabers in Stalingrad – verknüpft, in einer Form, die sich zwischen Prosa und Lyrik bewegt. Die Verknüpfung des Heute mit den teils von ihm entzauberten oder zertrümmerten Mythen der Vergangenheit war eine weiterer Wesenszug seiner Werke, auch seiner Theaterstücke, darunter Der Nibelungen Wohnpark. Wo es dabei um ungarische Vergangenheit ging, bot sein Schreiben Angriffsflächen, er wählte sich keinen bequemen Weg, war keinem politischen Lager zugehörig, nirgendwo verhaftet, vielmehr ganz er selbst. Zuletzt wandte sich János Térey Romanen zu, sein letzter, Káli holtak (Die Toten vom Kali-Tal), war zugleich Beschäftigung mit dem Theater wie auch der ungarischen Geschichte und Gegenwart.

Zur deutschen Geschichte und Kultur hatte er, der selbst nur bruchstückhaft Deutsch sprach, eine, wie es scheint, besondere Nähe. Die Arbeitsaufenthalte 2006 als Stipendiat im Schloß Solitude in Stuttgart oder als Artist in Residence 2019 in Niederösterreich, die Begegnungen mit der Stadt Dresden hinterließen in seinem Schreiben ihre Spuren, nicht nur im Gedichtband Drezda februárban (Dresden im Februar).

Wie gerne hätten wir ihn selbst zu unserem Begleiter und Führer auf der fortgesetzten Reise in sein Werk gewonnen – mit aller Aufgeschlossenheit, einem ersten Buch womöglich weitere folgen zu lassen.

Gemeinsam fieberten wir dem Erscheinen seines Buchs Budapester Überschreitungen entgegen, einer eigenwilligen, rhythmischen Art lyrischer, poemhafter Prosa, dessen – wie man fast sagen könnte – Nachdichtung wie auch die Buchausstattung mit zahlreichen Photographien uns einiges abverlangt haben. Wir konnten ihm sein Buch, was uns traurig macht und leid tut, so nicht mehr selbst übergeben. Als Stadtschreiber in Krems in der Wachau beeindruckte Térey noch im März bei einer Einladung ins Collegium Hungaricum in Wien im Gespräch mit dem Übersetzer György Buda. Seine Tiefe, seine Bildung, sein Scharfsinn und Witz verhießen Werke, die sich in ihm vorbereiteten, weckten die Lust, seine Stimme einer deutschsprachigen Leserschaft hörbar zu machen. Hörbar, denn selbst Téreys Prosa – wenn wir dafür dieses Behelfswort wählen – bedarf fast des lauten Er-Lesens, eines Nachspürens, der Aneignung durch ein Aussprechen. Ein Nachklingen, ein Tönen, das auch Wilhelm Droste ins Deutsche hinübertrug: ungefällig, zuweilen spröde, in einer Mischung von Alltagssprache, mitunter obszön, und ausgesucht Überholtem, ein öfter entlegenes Ungarisch, aus der Art geschlagen. Beklemmend wirkliche menschliche Begegnungen trotz einer oft so kaum vorstellbar gesprochenen Sprache, die wiederholt eine Realität heraufbeschwört, der doch wieder kaum zu trauen ist – Freiheit von Dichtung.

Mit der letzten Begegnung in Wien wurde unser Gespräch intensiver, und es gab die Vorfreude auf Buchvorstellungen, den Austausch über denkbare Folgeprojekte, das Vorgefühl, hier zu einer starken Autor-Verlagsbeziehung zu gelangen, gegen alle Hürden und angesichts eines Literaturbetriebs, der – hier wie dort – solche unzeitgemäßen Außenseiter weniger goutiert.

In einer gelösten Stimmung schrieb uns János Térey nach unserem letzten Treffen in Wien, wo er auf den Spuren von Dezső Szomory, über den wir uns unterhielten, zum Hotel Bristol flanierte, beglückt auch im Gasthaus Reinthaler in der Gluckgasse einkehrte, wo er ein ihm bisher verborgenes, unvertrauteres Wien in sich aufsog, wie stehengeblieben vor Jahrzehnten. Gleich noch einmal bereiste er Wien, eine, so schien es mir, ob zutreffend oder nicht, Männerreise von Vater János und, wie ich es verstand, einem seiner Söhne aus Anlaß einer weiteren Lesung. Geplant war auch, mit ihm kommende Leseorte wie die Buchhandlung 777 in der Domgasse zu besuchen. Als er bei diesem Aufenthalt eine Verabredung mit mir absagte, weil sich sein Kind plötzlich unwohl fühlte, waren wir wohl beide sicher, noch viele andere Gelegenheiten zu haben – ein Trugschluß.

Im Glauben, miteinander am Anfang zu stehen, mit dem Wunsch, sein Werk weiter nach Europa zu tragen, wurden wir auseinandergerissen. Am Morgen des 3. Junis starb János Térey mit nur 48 Jahren völlig unerwartet in Budapest. Noch am selben Tag gab es eine erste Würdigung durch Wilhelm Droste im Gespräch mit Jan Drees im »Büchermarkt« im Deutschlandfunk. (Zum Artikel.)

Wilhelm Droste erinnerte auch in der Neuen Zürcher Zeitung an ihn, als fast die einzige Stimme, die seinen Tod – und mehr noch: sein Leben und Wirken – im Deutschen zur Sprache brachte. (Zum Artikel.)

In Ungarn selbst war der Schock fühlbar, unter dem Kollegen, die ihn schätzten, standen und wohl noch immer stehen.

Am 18. Juni hätte János Terey abends im Budapester Kaffeehaus Három Hóllo – »Drei Raben«, benannt nach Endre Adys Lebens- und Schreibort, gleich am Pester Donauufer bei der Elisabethbrücke – als einer von mehreren Autoren eines druckfrischen Sammelbands einen Essay vorstellen sollen. An jenem Nachmittag versammelten sich anstattdessen Hunderte zur Trauerfeier auf dem Friedhof Farkasreti, um sich von ihm zu verabschieden; die Autoren György Spiró und Vilmos Csaplár erinnerten an ihn.

Und muß ich so dich wiederfindenEs fällt schwer, sich auch in der eigenen Vorstellung von jemandem zu trennen, der am Herzen lag, der voller Pläne steckte, ansteckend, dem Leben zugewandt, getrieben davon, zu schreiben. Es geht mir durch den Kopf, wie die letzte Geschichte der Budapester Überschreitungen endet. Mitten in die Ausgelassenheit einer Weihnachtsfeier platzt einer, der der Unglücksbote sein soll, Überbringer einer Todesnachricht an seine Kusine. Nicht irgendwer ist gestorben, sondern sein Onkel, ihr Vater. Der Mutter ist sie nicht erreichbar. So spricht er sie an, jedoch: »Die Worte«, heißt es da, »blieben ihm im Halse stecken.«

Es gibt oft keinen passenden Augenblick für das Sterben, es setzt zu und kann groze arebeit sein, damit einen Frieden zu finden. Es war – ich wage das zu bekennen – ein Trost, die Witwe von János Térey zu erleben, eine Mutter, die seinen Kindern Wärme und Halt geben wird, trotz all ihrer eigenen Trauer. Ich versprach ihr, mit seinem Buch, das wir uns zu seinen Lebzeiten gewünscht hätten, zu ihr zurückzukehren.

Auf einer Hügelkuppe, zwischen Kastanien und Ahornen, um sich in der Hitze spielende Eidechsen, über die Steinplatten huschend, möge János Térey in Frieden ruhen. Wir tragen ihn so, wie wir ihn und sein Werk kennenlernen durften, im Herzen, sehr lebendig und dankbar für sein Vertrauen, für diese kurze geteilte Zeit. Seinem Buch Budapester Überschreitungen – das im August erscheinen wird – wünschen wir, daß es die Erinnerung an ihn wachhält, andere Gesichte und Gesichter seiner Wahlheimat Budapest (er stammt aus Debrecen) enthüllt, hoffen, daß sich nach den Gedichtbänden Kalt Wasser Kult und einer gemeinsamen Publikation mit Anja Utler in der Reihe »Dichterpaare« noch weitere Bücher auf Deutsch dazugesellen, die eine Ahnung von ihm und seinem literarischen Reichtum geben.                                                                     

Christoph Haacker